Hallo, ich hab das grade mal quergelesen und will daher einmal „nur“ weiterreichen, was mich fasziniert und gleichermaßen beeindruckt hat. Mein Traum den ich so oft träume. Mein Traum der mich oft direkt in die Melancholie treibt und der doch zu schön ist ihn nach all den Jahren ad acta zu legen. Wenn in stiller Stunde Träume mich umwehn:
Ja Träume von Heimat, Träume von den vielen Ecken und Kanten, Träume die erlebt und gelebt werden mussten, Träume die sich eingebrannt haben und die mein Vermächtnis bleiben werden solange ich sie in mir trage…
Mein altes West-Berlin
Die Mauer gehörte dazu, die Ratten in den Hinterhöfen auch. Tanja Dückers erinnert sich an ihre Kindheit in den 1970er und 1980er Jahren in West-Berlin.
Von Tanja Dückers
Die Texte sind Auszüge aus dem Buch von Tanja Dückers: Mein altes West-Berlin.
Sterbende Stadt oder der Bahnhof Zoo
Der Bahnhof Zoo war eine Institution in West-Berlin. Groß und schmuddelig hatte er eine düster-erhabene Aura. Dass der Bahnhof Zoo eines Tages zum Regionalbahnhof herabgestuft werden würde, lag außerhalb des Vorstellungsvermögens der Berliner. Früher kamen die Großeltern immer am Bahnhof Zoo an, wenn sie uns besuchten. Aber nur ein einziges Mal kamen mein Onkel und meine Tante aus Westdeutschland. Schon auf dem Weg zum Parkplatz lästerten die beiden über die vielen Penner. Der Anblick des Beate-Uhse-Shops sowie der Fressbuden am Zoo schien ihren Eindruck von West-Berlin nicht zu verbessern. An ihrem letzten Abend in Berlin fragten meine Eltern: „Wie waren denn eure Eindrücke von Berlin?“ Und der Onkel hatte sofort eine steile Ansicht parat: „Ihr lebt in einer sterbenden Stadt! Nicht mal am Kriegsende kann Berlin trauriger gewesen sein als jetzt!“ Sie waren überzeugt, West-Berlin würde an die Sowjetunion fallen. Die Stadt sei eh ein absurdes Konstrukt und wäre auf die Dauer zu teuer für den Bund.
„Der Russe“ würde sich den Happen West-Berlin vor seiner Nase nicht länger anschauen, nicht weitere dreißig Jahre untätig zusehen, irgendwann zubeißen. „Wegen euch“ würden die Amis bestimmt keine Bodentruppen schicken. Und wenn es einen Atomkrieg gäbe, wovon über kurz oder lang auszugehen sei, so die selbstgewisse Tante, würden wir erst recht in einer sterbenden Stadt leben! Aber einen Dritten Weltkrieg würde für uns Berliner sowieso niemand riskieren.
Dann brausten die Verwandten vom Bahnhof Zoo wieder ab in ihr langweiliges Leverkusen. Wir blieben mit ihren düsteren Worten zurück. Mein Vater tröstete uns Kinder: „Das ist doch keine sterbende Stadt, sondern die lebendigste Stadt Deutschlands!“ Wenn wir zum Bahnhof Zoo fuhren, zu dem alten schmuddeligen Ding, dann meinte ich zu spüren, dass er recht hatte: Selbst von den Nutten, den Säufern und den ewigen An-die-Wand-Pinklern am stinkenden Zoo ging etwas aus, das einen nicht wirklich glauben ließ, diese Stadt würde einfach so sterben.
Berlin fühlte sich irgendwie immer gut an, auch wenn es nicht schön aussah. Auf der Landkarte jedenfalls sah die Stadt aus wie der Fleck, den eine zerquetsche Fliege auf einer Tischdecke hinterlässt.
Aus Berlin herauszukommen, war gar nicht so einfach. Meist fuhren meine Eltern mit dem Auto über die Grenzübergangsstelle Dreilinden-Drewitz (wir sagten nur Dreilinden), also zum Panzer. Kurz vor dem DDR-Kontrollpunkt wurden wir von ihm begrüßt. Der Panzer war der erste, der im Jahr 1945 Berlin erreicht hatte. Die sowjetische Militärverwaltung hatte ihn so aufgestellt, dass sein Geschützrohr auf West-Berlin gerichtet war. Diese Symbolsprache verstand ich auch als Kind. Je älter ich wurde, desto weniger beängstigend wirkte der Panzer. Er schien mit dem sich endlos hinziehenden Kalten Krieg doch etwas in die Jahre gekommen zu sein. Im Dezember 1990 nahmen die abziehenden sowjetischen Truppen ihn mit.
Das lange Warten hat jedenfalls viel Lebenszeit in Anspruch genommen. Wir entwickelten stets neue – meist falsche Theorien – darüber, welche Schlange am schnellsten vorankommen würde. Damals gab es auch nur wenige Autos mit Klimaanlagen, und bei 35 Grad konnte es in den Sommerferien ziemlich unangenehm werden. Den Beweis hierfür erbrachten die vielen von der Hitze gewellten Aral-Autoatlanten, die in jedem zweiten Auto hinter den Sitzen vor sich hin schmorten.
Gelegentlich versuchten die Eltern, uns zu trösten, indem sie sagten, dass die Ostdeutschen immer so lange warten müssten, auf alles. Man müsse im Osten beim Einkaufen warten, wenn man in ein Restaurant gehen wolle, warten, wenn man ein Auto kaufen, eine Wohnung mieten wolle – immerzu warten – und wir stünden ja nur heute, jetzt gerade, in der Schlange vor dem Grenzübergang.
Einmal warteten wir sieben Stunden am Grenzübergang, um nach Prag zu fahren. Anschließend wurde unser Auto von oben bis unten durchsucht. Vielleicht waren wir verdächtig, weil wir alle ein bisschen wie Hippies aussahen, wobei mein Vater eher der elegante Typ „Hippie mit Krawatte“ war. Es wurde wirklich alles aufgemacht und abgeschraubt, eine endlose und sinnlose Prozedur – und man hatte es fast nie mit freundlichem Personal zu tun.
Waren wir „durch“, lag grau und scheinbar endlos die aus Betonplatten zusammengeschusterte Transitstrecke vor uns. Sofort fühlte sich die Autobahn anders an, in Abständen von ungefähr fünfzig Metern fuhr man über Bruchnarben, ein immer gleiches Gerumpel. Man durfte nur Tempo Hundert fahren. Statt hell erleuchteter Bungalows standen auf den Rastplätzen nur ein paar karge Sitzgelegenheiten. Die zweieinhalbstündige Fahrt bis zum Grenzübergang Helmstedt kam mir ewig vor: Kiefern, Kiefern, Kiefern, blasse Schilder, Autokolonnen, die Bruchnarben im Asphalt, in der Ferne gelegentlich große Häuserblocks, Industrie. Nur wenn wir an dem Hinweis Magdeburg vorbeifuhren, rief unsere Mutter hocherfreut: „Guckt mal, der Magdeburger Dom!“ Und wir drei drehten synchron unsere Köpfe in Richtung Dom.
Auf dem Rückweg brach, wenn wir wieder durch beide Grenzen und über die Transitstrecke gekommen waren, immer für einen Moment Hochstimmung aus. Endlich: Avus, man brauchte nicht mehr hundert zu fahren, unsere Mutter gab beschwingt Gas, und der Tacho unseres alten Benz kletterte auf hundertvierzig. Jedes Mal, wenn wir die Grenze passiert hatten, fiel eine kleine Last von uns ab.
Einer der wenigen Orte, die sich nicht verändert haben
KaDeWe
Ins KaDeWe ging unsere Mutter höchst selten. Es war teuer und aufgrund der unglaublichen Warenfülle unübersichtlich, eher zum Flanieren als zum zackigen Einkauf mit zwei Kindern an der Hand geeignet. Ich aber mochte den Namen KaDeWe – ihm haftete für mich etwas Klotziges und Massives an, er hatte etwas von einer politischen Partei oder einer Spionageorganisation.
Auch wenn man links oder linksliberal war, sympathisierte man nicht mit dem RAF-Brandanschlag dort. Das KaDeWe war irgendwie überzeitlich, wie ein Bergmassiv, nichts, was man herausfordern wollte. Es wurde im Übrigen als sehr berlinerisch empfunden. Der Berliner, als Halbprovinzler, war stolz darauf, dass es mal wieder etwas besonders Großes, Außergewöhnliches gab.
Im Alltag ging man eher zu Aldi oder Wertheim. Ich hatte Ende der siebziger Jahre die vierteilige Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss im Fernsehen gesehen, und wir hatten den Nationalsozialismus insgesamt dreimal in der Schulzeit „durchgenommen“. Doch dass unser Kaufhaus Wertheim etwas mit dieser düsteren Geschichte zu tun haben könnte, wussten wir nicht. Geschichte blieb oft eigentümlich abstrakt, obwohl wir täglich unsere Füße auf blutbedeckten Boden setzten. Die nahe Vergangenheit wirkte so, als wäre man im Fahrstuhl zu schnell an ihr vorbeigefahren und würde sie nur aus dem zehnten Stock wie eine Spielzeugwelt betrachten.
Unser Wertheim war der Versuch der jüdischen Familie Wertheim gewesen, nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Berlin Fuß zu fassen. Ihre Kaufhäuser waren im „Dritten Reich“ erst boykottiert, dann zwangsenteignet worden. 1952 startete die Wertheim AG in der Wilmersdorfer Straße einen Neuanfang. Im gleichen Jahr folgte ein Neubau in der Schlossstraße in Steglitz und 1971 dann „unser“ großes Haus am Ku’damm. Mitte der achtziger Jahre wurde Wertheim vom Hertie-Konzern übernommen, 1994 wurde wiederum Hertie von Karstadt geschluckt. In Berlin führten bis April 2009 noch zwei Warenhäuser den Namen Wertheim. Dann verschwand die Marke leider vollständig.
Heute fehlt meinen Eltern „ihr“ Wertheim. Aber es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, was die Hintergründe für diesen Neuanfang und dieses Verschwinden sind und warum dieses wiederholte Verschwinden besonders schmerzlich ist.
Pfaueninsel
Der Besuch der Pfaueninsel hatte einen sehr sonntäglich-gediegenen Charakter. Man unternahm solche Ausflüge eher mit Berlinbesuch aus Westdeutschland. Die Insel ist schon seit dem frühen 19. Jahrhundert ein beliebtes Ausflugsziel. Ich war jedoch schwer enttäuscht zu erfahren, dass die Schlossruine keine „echte“ Ruine ist. Auch war sie nicht wirklich „alt“, wie die Eltern beklagten. Sie hielten von der Schauerromantik des Schlösschens auf der Pfaueninsel mit den eingerissenen Mauern nicht viel.
Es freute uns aber, Pfauenfedern auf der Insel zu suchen. Wir Kinder waren keineswegs die einzigen Sammler, und die gemächlich schreitenden Vögel verlieren nicht dauernd Federn. Vor den majestätischen Vögeln, die wie die eigentlichen Könige oder Prinzen über die Insel stolzierten, hatten wir Respekt. Wir kannten Tiere, abgesehen von den allgegenwärtigen Ratten und Tauben, hauptsächlich aus dem Zoo oder als Haustiere oder Nutztiere. Dass eine ganze Insel mitten in der Havel eigentlich den Tieren gehörte und die Menschen nur, so schien es, gelegentlich mit einer Fähre zu ihnen übersetzten, um sie in ihrer Pracht zu bewundern, war außergewöhnlich. Es stellte die ansonsten vermittelte, Kindern aber instinktiv oft fragwürdig vorkommende Hierarchie zwischen Menschen und Tieren infrage.
Neben der Begegnung mit den edlen Inselbesitzern freuten wir uns aber auch auf etwas ganz Profanes: Auf das Herumrutschen in alten Filzpantoffeln im Schloss. Ohne Führung durfte man das Gebäude nicht betreten. Alle Besucher mussten riesige, unförmige Pantoffeln anziehen. Wir flitzten mit ihnen auf den gut in Schuss gehaltenen glänzenden Parkettböden herum. Gelegentlich gab es vom Museumspersonal Ermahnungen deshalb, das eine oder andere Mal mussten wir uns an einer der Kordeln, die luftige Gänge durch die Säle schufen, festhalten, aber meistens schlitterten wir uns gut durch die einstündige Führung. Die Eltern taten dann so, als seien wir nicht ihre Kinder.
Beinahe wäre wirklich Gespenstisches mit der ganzen Insel passiert: Ähnlich, wie es die abscheuliche Idee gab, das Gebäude des heutigen Literaturhauses abzureißen, kam Anfang der sechziger Jahren unter dem von Brandt geführten Senat die Idee auf, auf der Pfaueninsel ein Atomkraftwerk zu errichten. Die Überlegungen fußten auf der isolierten Lage West-Berlins und den Erfahrungen der Blockade – man wollte Berlin energieautark machen. Stattdessen ist die Pfaueninsel einer der wenigen Orte in Berlin geblieben, die sich trotz aller Umbrüche kaum verändert haben.
Gedächtniskirche
Der zentrale Orientierungspunkt, das stille, unheimliche Epizentrum der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, war und ist die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Es kam einem als Kind nicht in den Sinn, wie verrückt und seltsam es war, in einer geteilten Stadt zu leben, in deren westlichem Zentrum am Ende der berühmtesten Straße eine in ihrer Zerstörung konservierte Kirche stand. Es war eben so. Dennoch: Es war mindestens unterschwellig bedrückend. Als ich kleiner war, fürchtete ich mich vor der Ruine, hielt gern einen gewissen Abstand – wie zu einem Grab.
Groß und kaputt, still und dunkel ragte die Gedächtniskirche wie aus einer anderen, brutaleren Zeit hinter den vielen Einkaufstempeln und Leuchtreklamen auf dem Ku’damm hervor – vor allem hinter den riesigen Lettern, die über der elektronischen Werbetafel an der Joachimsthaler Straße (damals noch: Joachimstaler ohne h) flimmerten: Coke is it.
Das „Kaiser Wilhelm“ vor dem Wort „Gedächtnis“ sprach kein Mensch aus. Ich glaube nicht nur wegen der Länge des Namens „Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche“, sondern weil die Gedächtniskirche längst eine ganz andere Erinnerung heraufbeschwor und verkörperte als die an den alten Monarchen: die Erinnerung an die Schrecken des Krieges und an die furchtbare Zerstörung Berlins.
Wenn ich die Gedächtniskirche auf alten Postkarten unzerstört sehe, dann ist mein Erstaunen beinahe ebenso groß wie beim Anblick von Fotos, auf denen mein Großvater mütterlicherseits zwei Beine hat: Der Anblick seiner Prothese oder seines Stumpfes war vertrauter. Die Gedächtniskirche war für mich als Kind auch so ein Stumpf.
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Foto JK ©23/11/2016